Die aktuelle Lage der Aleviten in der Türkei

Die Situation der Aleviten ist auch gegenwärtig von starken Spannungen mit den viel konservativeren Sunniten bestimmt. Zwar dürfen die traditionellen alevitischen Feste inzwischen in der Türkei offen gefeiert werden, allerdings offiziell nicht als religiöse, sondern lediglich als Folkloreveranstaltungen. Dies ist in der recht speziellen Form der Trennung von Staat und Religion in der kemalistischen Türkei begründet.
Das Vorhandensein von 15-20 Mio. Aleviten wird offiziell geleugnet. Staatliche Stellen "übersehen" sie und bemühen sich, die Bevölkerung der Türkei als durchgängig sunnitisch-muslimisch darzustellen. Seitdem in der Türkei der Religions- und Ethikunterricht in den Schulen infolge der neuen Verfassung von 1982 zum Pflichtfach geworden ist, sind die Kinder aus alevitischen Familien verpflichtet, am Religionsunterricht teilzunehmen, in dem nicht ihre eigene, sondern die sunnitische Glaubensrichtung gelehrt wird. Durch eine solche Unterrichtung, die der familiären religiösen Erziehung zuwiderläuft, werden bei den jungen Menschen Gewissens- und Familienkonflikte hervorgerufen. Darüber hinaus führt es zu Konflikten zwischen alevitischen und sunnitischen Schülern und den Familien und damit immer wieder zum Zwiespalt der beiden Religionsgemeinschaften.
Das Amt für religiöse Angelegenheiten in der Türkei (Diyanet) bestimmt die finanzielle Förderung der muslimischen Gemeinden und gestaltet den Religionsunterricht an den Schulen. Das diesem Amt aus den Steuern aller in der Türkei Lebenden zur Verfügung gestellte Budget wird ausschließlich zur sunnitischen Lehre und zur Betriebsinanzierung von sunnitischen Moscheen genutzt. Dabei beansprucht dieses Amt den gesamten Islam zu vertreten. Seit Anfang der achtziger Jahre entsendet das Amt für religiöse Angelegenheiten sunnitische Geistliche zum Zwecke der Missionierung auch in traditionell alevitische Dörfer, baut dort verstärkt sunnitische Moscheen und setzt damit die dortigen Aleviten und ihre Geistlichen unter erheblichem Druck. Selbst in mehrheitlich alevitischen Dörfern wurden auf Kosten der dortigen alevitischen Steuerzahler sunnitische Moscheen gebaut. Dies zeigt, dass die Aleviten bis heute von den überwiegenden Muslimen nicht als eigenständige und gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anerkannt werden.
Die Herabsetzung von Ritualen wie dem Cem, die für den alevitischen Glauben zentral sind, wird von Aleviten als Diskriminierung empfunden. Denn trotz der staatlichen Religionsfreiheit in der Türkei gab und gibt es dort starken Druck auf ihre Anhänger, sich dem sunnitischen Islam zuzuwenden oder ihren Glauben zumindest nicht offen auszuleben. So kam es zum Beispiel 1978 in den Städten Çorum und Kahramanmaraş zu anti-alevitischen Pogromen. 1993 wurden bei einem alevitischen Kulturfestival in Sivas ein Brandanschlag auf ein Hotel verübt, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen. Die Teilnehmer hatten sich dorthin zurückgezogen, nachdem Gegner das Fest angegriffen und die Teilnehmer massiv bedroht hatten. Ziel der Attacken war Schriftsteller Aziz Nesin, der zuvor in einem kontroversen Buch die zunehmende Islamisierung und allgemein Zustände in der Türkei kritisiert hatte. Die Duldung dieses aggressiven Massakers und die nur zögerlichen Rettungsaktionen ließen den Verdacht aufkommen, daß örtliche und staatlichen Organe Partei für die radikale Islamisierung genommen hatten.
Die Europäische Kommission hat die Diskriminierung der Aleviten in der Türkei im Rahmen von deren Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union mehrfach kritisiert: zuletzt in der „Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom 4. Oktober 2004. Ein Beitritt der Türkei zur EU ohne Anerkennung der Aleviten als muslimische Minderheit ist aufgrund der alle EU-Staaten verpflichtenden Religionsfreiheit daher undenkbar.

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